Sonntag, 2. März 2014

Wie lassen sich Essanfälle wirklich dauerhaft verhindern?

Vor einiger Zeit, 2012, habe ich den Artikel "6 Wege, um Fressanfälle zu verhindern" geschrieben. Heute soll es darum gehen, wie ihr dauerhaft von FAs loskommen könnt, und sie nicht nur kurzfristig verdrängt. Die Vorgehensweise, die ich hier beschreibe, hat auch bei mir funktioniert- wenn auch über viele Umwege, weil ich diese Theorie bezogen auf die Bulimie damals nirgendwo nachlesen konnte, sondern sie mir aus vielen verschiedenen philosophischen Ansätzen, neurologischen Erkenntnissen, psychologischen Methoden etc. heraus erarbeitet habe.

Das Ganze basiert auf dem Gedanken, dass ein FA nicht viel mehr ist als eine schlechte Verhaltensweise, die sich irgendwann in der Vergangenheit- also dem Beginn eurer Bulimie- so bei euch eingefahren hat, und eben in sehr vielen Fällen nicht die Spitze eines Eisbergs ist, der aus einem Haufen emotionalem Ballast besteht. Es geht bei der Heilung also zunächst darum, sich dieses automatisierte "Fehlverhalten" abzugewöhnen. Man kann das auch mit anderen Süchten, beispielsweise dem Rauchen, vergleichen. Durch das Rauchen sind im Gehirn neue neurologische Strukturen entstanden, die man sich wie Autobahnen vorstellen kann. Man muss nun neue Routen bauen, indem man sich neue Verhaltensweisen angewöhnt. Wie lange das dauert, ist individuell verschieden, aber man kann mit einer Dauer zwischen ca. 3 Wochen und 8 Monaten rechnen. Dann sind die neuen Routen "befahrbar", die neuen Verhaltensweisen haben sich also tief genug ins Gehirn eingegraben, dass sie dauerhaft tragfähig sind und die alten Routen ablösen. In diesem Zusammenhang kannst du dir auch einmal die Studie des University College London ansehen, wo im Jahr 2009 96 Teilnehmer untersucht wurden, die ihr Verhalten ändern wollten. Dort ergaben sich die o.g. Zeiträume, in denen eine stabile Verhaltensänderung erreicht werden konnte.

Die Frage ist aber nun: Wie überbrücke ich diese schwierige "Neubauphase"?
Im Grunde liegt die Antwort auf der Hand, und vielleicht hast du selbst schon mal darüber nachgedacht: indem du deine Gedanken bewusst wahrnimmst. Das kann man üben, und nach einer Zeit geht das auch ziemlich leicht. Ich habe es geübt, indem ich wirklich alles gedanklich nachverfolgt habe. Sicherlich geholfen hat mir dabei auch, dass ich irgendwann (nachdem ich schon keine bulimischen Symptome mehr hatte) mal darauf geachtet habe, kein zusammenhangloses Zeug mehr zu reden. Das war nämlich zu gewissen Zeiten recht nervig und für Außenstehende anscheinend auch ziemlich verwirrend. Zusätzlich bin ich in Berührung mit der stoischen Philosophie gekommen und habe die Gelassenheit für mich entdeckt, und habe versucht, sie als konstanten Bewusstseinszustand für mich zu "etablieren". Das kann man nur schaffen, indem man wirklich jeden einzelnen Gedanken durchleuchtet, und da fallen negative Gedanken dann eben recht schnell auf. Was ich damit sagen will: wenn du einen FA bekommst, dann kündigt er sich vorher immer in Gedanken an. Das kann beispielsweise ein immer wiederkehrender Gedanke wie "ich will dringend ein Stück Kuchen" bis hin zu "heute darf ich auf gar keinen Fall einen FA haben" sein.

Der nächste Schritt nach dem bewussten Wahrnehmen des Gedankens, wie beispielsweise also dem "heute darf ich auf gar keinen Fall einen FA haben" wäre dann, diesen anders zu formulieren, und zwar ins Positive. Indem du immer daran denkst, was du NICHT willst, verstärkst du den Drang danach nämlich umso mehr. Du kennst sicherlich auch diese Werbung mit dem Überraschungsei und den Kindern, die versuchen müssen, das Ei nicht zu essen (Ferrero hat das natürlich nicht erfunden, sondern die Idee aus einer älteren Studie übernommen...). Was machen die Kinder? Sie denken die ganze Zeit nur an das Ei. Das Gleiche ist der Fall bei "Denk nicht an den weißen Elefanten". Wenn du es schaffen willst, keinen FA zu haben, dann denk nicht "Ich darf keinen FA haben", sondern z.B. "Ich esse heute das, was mein Körper braucht". Diese Vorgehensweise, Gedanken bewusst wahrzunehmen und zu hinterfragen, findet sich in vielen anderen Techniken wieder, u.a. bei NFP, The Work, etc. Im Grunde geht es tatsächlich immer um dieselbe Sache: Gedanken bewusst wahrnehmen (dazu gehört aber eben auch die Bereitschaft, denken zu wollen) und anschließend entsprechend zu handeln. Man findet hier auch wieder das alte Mantra "Wir sind, was wir denken....". Es ist unausweichlich- wenn man die Bulimie loswerden will, muss man anfangen zu denken.

Ich hoffe, das Beschriebene ist einigermaßen verständlich- und wie gesagt, sobald ich wieder etwas mehr Zeit habe, werde ich euch hoffentlich ein kompakteres und überschaubares Modell dazu nachliefern.

Der Vorteil dieser "Methode" ist, dass man sich nicht therapeutisch in tiefenpsychologische Rückblicke verstricken muss, man muss nicht in seiner Kindheit graben, in der "Hoffnung", dort irgendeinen Hinweis zu finden, und man muss sich auch nicht ständig fragen, was bei einem selbst alles sonst nicht stimmt. Nein, in den meisten Fällen sind Bulimiker völlig normal. Ich halte es (mittlerweile) für sehr gefährlich, Betroffenen immer das große Emotionsproblem aufdrücken zu wollen, das es in Wirklichkeit so möglicherweise gar nicht gibt. Irgendwann glaubt jeder, er sei verrückt, solange man es ihm nur lang genug eintrichtert. Ich hätte es mir damals sehr gewünscht, jemand hätte mir diese Sichtweise eröffnet, dann wäre mir auch nach der Bulimie so einiges erspart geblieben. Denn so war ich eine lange Zeit der Meinung, ich sei nicht "normal" und ich hätte noch nicht alles bearbeitet, was da noch im Argen liegt. Dieser Gedanke kann ganz schön irritieren, auch mit einem gesunden Selbstbewusstsein. Wenn seelische Probleme auftreten, dann meiner Erfahrung nach eher aufgrund der Bulimie, und nicht als deren Auslöser.

6 Kommentare

  1. Anonym03 März

    Sehr schön, ich werde es probieren. Danke für die Schönen Texte.
    Maja

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  2. Ich finde deinen Ansatz zwar sehr Interessant, allerdings verstehe ich entweder etwas falsch oder kann dem nicht ganz so zustimmen. Denn eine Bulimie entwickelt sich ja schon aus irgendwelchen Problemen für die man in dem Moment keinen anderen Lösungsansatz sieht als die Essstörung. Somit ist ein Essanfall also auch immer mit eine Emotionale Komponente, die man sicherlich "abtrainieren" kann, allerdings gehört für mich auch dazu mal zu schauen was genau Emotional dahinter steht. So rein behavioristisch möchte ich das dann doch nicht sehen ;)

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    1. Hallo Lynn, ich bin da auch noch etwas hin und hergerissen, und in der Kürze eines kleinen Artikels war es schwierig, das Thema bzw. die Theorie in seiner Komplexität vollständig zu erfassen. Ich finde nur, dass die Essstörungen in vielen - nicht allen!- Fällen psychologisch überbewertet werden. Eine emotionale Komponente ist wichtiger Bestandteil der Bulimie, kein Zweifel, aber das darf nicht überbewertet werden. Denn es kann auch zu einem schwer kontrollierbaren Selbstläufer werden. Die Frage ist, ob nach dem (meist emotional bedingten) Einstieg in die Bulimie diese emotionalen Ausgangsgründe so schwerwiegend bewertet werden, dass sie z.B. psychiatrisch behandlungsbedürftig werden? Ich glaube eher, dass hauptsächlich der Einstieg psychologisch bedingt ist, und dass die Aufrechterhaltung "bloß" neurologisch und damit ziemlich leicht beeinflussbar ist. Klar, die Ursache des Einstiegs ist damit nicht bearbeitet, aber sie ist meiner Meinung nach kein Grund dafür, dass man sich jahrelang durch diese Essstörung quält.
      Wie gesagt, ich hoffe sehr, dass ich bald etwas Zeit habe, um die vielen Zusammenhänge darstellen zu können, denn das ist super interessant.

      Generell denke ich, dass wir bei der Behandlung von Bulimie und anderen Süchten noch ganz am Anfang stehen. Sonst gäbe es wahrscheinlich nicht so viele langjährige Betroffene. Darum bin ich mir auch nicht zu schade, mal ein anderes Erklärungsmodell zu beleuchten, es muss da noch etwas geben, das besser funktioniert als diese herkömmlichen psychologisch basierten Therapien.
      In diesem Sinne, danke für deinen konstruktiven Kommentar und das Gehirnschmalz :)

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  3. Anonym05 März

    Ich emfinde diesen Artikel als sehr wahr!
    Ich war vorher magersüchtig, hatte also fast nichts mehr gegessen. Dann wurde ich zum Essen gezwungen. Ich war zwar in therapeutischer Behandlung, was mir auch gut tat. Durch den Esszwang wurde ich also bulimisch. Ich habe alles aufgearbeitet, was mich in der Vergangenheit verletzt hatte, allerdings komme ich nicht von dieser scheiß Bulimie los.
    Das was nun hier in diesem Artikel beschrieben wird, macht mir Mut, dass ich doch noch da raus kommen kann.
    Denn meine Therapeuten wussten auch nicht mehr, was sie mit mir aufarbeiten sollten...

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    1. Das klingt mir sehr vertraut. Ich hoffe, dass dir der Ansatz weiterhilft. Du hast allen Grund zur Hoffnung :)

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  4. Anonym07 April

    Hallo Jo,
    deinen letzten Satz kann ich so nicht bestätigen. Bevor die Bulimie bei mir anfing, hatte ich schon jede Menge andere Störungen und hab sie immer noch( sie werden auch nie weggehen, im Sinne von komplett geheilt sein( Borderline, depressive Phasen, soziale Phobien, Posttraumatische Belastungsstörung, ADHS)...vor der Bulimie hatte ich mich einige Jahre geschnitten, verbrannt...als die Bulimie da war und ich merkte, dass das erbrechen genau so eine spannungsabbauende Wirkung hat, wie mich zu verletzen, hat es somit bei mir eine Suchtverlagerung gegeben und ich kenne auch viele andere Borderliner, die deswegen Bulimie haben.

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