Samstag, 9. Februar 2013

Haptik- der unterschätzte Sinn

Letztens trieb mich die Frage um, inwiefern Haptik, also der Tastsinn, in der Bulimietherapie eine Rolle spielen könnte. Im stationären Bereich wird ja schon oft mit Bewegung und auch Massage gearbeitet. Aber gibt es keine alltäglichere, unmittelbarere und direktere Form der Berührung?
Zuerst fiel mir dabei ein Bällebad ein. Bei einer eingehenderen Recherche zu dem Thema stellte sich heraus, dass dieses auch in der Ergotherapie und mittlerweile in nahezu jedem Kindergarten Anwendung findet. Auch in der Therapie gegen Autismus und gegen AD(H)S wird es eingesetzt, weil es in hohem Maß sowohl die Koordination, aber auch die Körperwahrnehmung schult.

Laut Prof. Grunewald vom Haptiklabor Leipzig (der neben Haptik interessanterweise auch noch den Forschungsschwerpunkt Essstörungen hat) ist Haptik der wichtigste Sinn des Menschen: «Ohne den Tastsinn können wir nicht existieren. Er wird als erster von allen Sinnen ausgebildet, schläft nie und stellt das Bezugssystem für alle anderen Sinne zur Verfügung».

Unsere Gesellschaft jedoch ist hauptsächlich auditiv und visuell orientiert, was sich leicht an der Werbung erkennen lässt... Dass Haptik nicht nur wichtig, sondern vor allem in den ersten Jahren überlebenswichtig ist, zeigt sich in den "Studien" Kaiser Friedrichs II. Unter dem Vorhaben, eine Art Ursprache des Menschen zu finden, experimentierte er mit Säuglingen, denen außer der Basispflege keinerlei Zuwendung zuteil wurde. Sie starben innerhalb kurzer Zeit, unter anderem deshalb, weil Berührung in den ersten Lebensmonaten, wie wir heute wissen, so immens wichtig ist.

Grunewald konnte auch einen Zusammenhang zwischen Essstörungen, insbesondere der Magersucht, und einem gestörten Tastsinn feststellen. Der Forscher brachte dies in Verbindung mit der sog. Körperschemastörung, die einer verschobenen Wahrnehmung des eigenen Körpers entspringt.  Er entwickelte daraufhin einen neuen Therapieansatz für Magersüchtige: sie sollten dreimal täglich einen Neoprenanzug tragen, um die eigene Körperwahrnehmung zu schulen. Und siehe da, die bisher getesteten Patienten zeigten große Fortschritte, sie waren mit ihrem Körper zufriedener, weil sie ihn auf einmal durch Fühlen wahrnehmen konnten. Hier findet ihr auch ein Video dazu.

Screenhot zum 3Sat-Beitrag in der Sendung "Nano"




Dass auch Bulimiker eine gestörte Beziehung zum eigenen Körper haben, ist wahrscheinlich unbestritten. Ich erinnere mich nur an meine eigene Vorstellung meines Körpers als Maschine: ich "drücke den Knopf" und das Essen kommt wieder raus. Ich rechne, wieviele Kalorien habe ich während des FAs vertilgt und wieviel habe ich wieder hinausbefördert. Ich stopfe A in die Maschine und das Gewicht ist B, zumindest habe ich mir das oft in der Art gewünscht. Dass das Gewicht eben oft nicht B war, liegt daran, dass der Körper nun eben keine Maschine ist. Hierzu passt auch wieder die Pillengeschichte...


Der Körper ist ein wundersames Wesen, ein biologisches Meisterwerk, aber er steht nicht für sich allein: Geist, Seele und Körper bilden eine Einheit. Darum ist es wichtig, bei der Heilung von Bulimie auf alle drei einzugehen. Zu verstehen, woher die Bulimie kommt und warum man sie sich als Krückstock ausgesucht hat. Sich offen zu machen für Dinge, die wir nicht verstehen, und das ganz ohne spirituellen Überbau- denn es ist schade, diese Dimension nicht für sich zu entdecken, weil zu viele Dogmatiker und Freaks unterwegs sind; und natürlich die Welt und den eigenen Körper und mit dem eigenen Körper nicht nur zu sehen, riechen, hören, schmecken, sondern auch zu FÜHLEN.

Der Erfolg von Prof. Grunwald in Bezug auf die Magersuchtstherapie macht auf jeden Fall Hoffnung, dass vielleicht auch bald der Zusammenhang zwischen Bulimie und Haptik näher untersucht wird... Ich bin schon sehr gespannt!

Zum Weiterlesen:
http://dasgehirn.info/wahrnehmen/fuehlen-koerper/der-homo-hapticus
http://www.multisense.net/praxis/interviews/der-ganze-koerper-ist-ein-tastsinnessystem-teil-1/
http://www.medizinpopulaer.at/archiv/gesellschaft-familie/details/article/kuscheltier-mensch.html

0 Kommentare

Kommentar veröffentlichen